Katastrophe im Glauben Die Akustik in Kirchen ist schwierig. Trotzdem siegt immer wieder die Faszination der sakralen Architektur und ihrer Ausstrahlung. Dann unternehmen Menschen wieder einmal den Versuch, eine Oper oder ähnlich große Werke in den Kirchenraum zu tragen. Nicola Glück und Alexander Stessin sind solche Menschen. Und sie hatten einen wirklich nachvollziehbaren Grund dafür. Sie erhielten von der Evangelischen Kirchengemeinde Kaiserswerth in Düsseldorf den Auftrag, eine Kirchenoper zu schreiben und aufzuführen. So etwas passiert nicht jeden Tag, auch dann nicht, wenn die Gemeinde über einen eigenen Freundeskreis für Kirchenmusik verfügt. Ein solches Engagement kann man gar nicht hoch genug schätzen, hält sich doch die Zahl von Uraufführungen selbst in den eigentlich hierfür bestimmten Opernhäusern in engen Grenzen.

So entstand die Reformationsoper In Exitibus – Auf Scheidewegen. Glück entschied sich als Librettistin gegen die 100. Nacherzählung zu Martin Luther, sondern verschob die Handlung in einen scheinbar abstrakten Bereich, um die Idee der Reformation zu veranschaulichen. Dabei ging es ihr ausdrücklich nicht darum, die Abgrenzung der evangelischen von der katholischen Kirche erneut heraufzubeschwören, sondern vielmehr die ganz persönliche Reformation eines einzelnen Menschen aufzuzeigen und damit zu beweisen, dass Reformation heute so aktuell ist wie ehedem. Dazu wählt sie die denkbar grausamste Ausgangssituation, die heute buchstäblich jeden von uns von jetzt auf gleich treffen kann. Eine nicht näher bezeichnete Katastrophe zwingt eine Gruppe von Menschen dazu, sich in der Hoffnung auf Rettung in eine Kirche zurückzuziehen. Eine verunsicherte, verängstigte Menschengruppe – oder sollen wir sagen: Gesellschaft? – neigt immer dazu, sich dem starken Mann, dem Anführer, dem Retter in der Not anzuschließen. Und wenn da einer ist wie P, der ihr mit großen Riten Hilfe und scheinbare Sicherheit O-Ton Kulturmagazin mit Charakter Foto © Sergej Lepke Aktuelle Aufführungen Suchbegriff eingeben… Finden bietet, sind die Opfer, die Geschundenen nur allzu gern bereit, keine großen Fragen zu stellen, sondern sich ihm zu unterwerfen. Aber es gibt auch immer diesen einen, diesen nichtsnutzigen Quertreiber, der lästig ist, weil er eben doch fragt. Hinterfragt. Hier ist es M, der die Grausamkeit der Riten aufzeigt und damit die Autorität P’s untergräbt. Schon spalten sich erste Menschen der Gemeinschaft ab, um sich dem Querulanten anzuschließen. Zwar gelingt es P immer noch, wieder Ruhe herzustellen, aber die Zweifel bleiben. Glück lässt den Antihelden nicht untergehen oder vom System vernichten, sondern lässt den Schluss offen und zeigt viel lieber, wie schwierig es ist, sich von der Gemeinschaft zu lösen und den Scheideweg zu gehen. Den religiösen Überbau gibt es in Form eines Kinderchors als Stimme Gottes. Stessin hat dazu eine Musik komponiert, in der er bewusst auf die Gegensätze zwischen dem Althergebrachten und neuen Einfällen setzt. Wichtig sind ihm, der hauptberuflich als kommissarischer Chordirektor der Oper Leipzig arbeitet, aber vor allem die Stimmen – und so entstand eine große Choroper mit einer Länge von anderthalb Stunden.

In der Mutterhauskirche Kaiserswerth, einem wunderschönen Gebäude, das 1903 eingeweiht wurde, führt Glück auch gleich noch Regie. Ist schließlich ihr Hauptberuf. Und wenn sie zwei Dinge kann, dann ist das, Räume zu nutzen, und mit überschaubaren Etats aussagekräftige Inszenierungen zu schaffen. Stessin hat ihr zusätzliche Herausforderungen mit auf den Weg gegeben. Orgel und Schlagwerk müssen möglichst weit vom Orchester entfernt sein und damit es nicht zu einfach wird, sind gleich drei Chöre involviert. Das Podium des Altarraums ist nach vorne verlängert und bietet somit ausreichend Spielfläche, auch wenn man das zu Beginn noch nicht so recht glauben möchte. Rechts davon ist das Orchester platziert, das Schlagwerk findet neben der Schuke-Orgel auf der Empore Platz und der Kinderchor wird erst mal – akustisch mit hochdramatischer Wirkung – auf der Seitenempore untergebracht. Später wird er ebenfalls zur Bühne stoßen und dann zeigen, dass Glück auf Zentimeter gearbeitet hat. Vorerst aber stürmt der große Chor mit Schreien des Entsetzens die Bühne, auf der ein bisschen Rauch wabert, um das Licht zur Geltung zu bringen, das ansonsten kaum eine Rolle in der Aufführung spielt. Die Akteure treten in hellgrauer und weißer Alltagskleidung auf. Rote Bänder veranschaulichen symbolhaft die körperlichen Verletzungen, die sie erlitten haben. Schon erklingt das Dies irae, und das „Duell der Giganten“ kann beginnen.

Die Giganten sind in dem Fall Bariton Rolf A. Scheider und Tenor Thomas Piffka. Scheider zeigt erst mal wieder, welch begnadeter Schauspieler in ihm steckt. Denn das Libretto schreibt ihm minutenlanges Grinsen der Glückseligkeit vor, und mit der Kopfbedeckung begibt sich Glück in den strafrechtlich relevanten Bereich. Aber Scheider hält tapfer durch und liefert stimmlich alles, was man sich wünschen kann. Das verhält sich auch bei Piffka so, der seine Rolle großartig ausfüllt. Und doch: Beide scheitern ebenso wie die Chöre an der Akustik des Kirchenraums. Die Textverständlichkeit geht gegen Null. Damit ist auch die Übertitelung unter dem Dach des Altarraums verschenkt, weil sie sich auf Schlagworte beschränkt.

Trotzdem kann die Aufführung fesseln, weil auch die Kantorei der Evangelischen Kirchengemeinde mit Spielfreude begeistert. Und die silberhellen Stimmen eines Kinderchors können auch dann entzücken, wenn die Inhalte nicht verstanden werden. Weiterer Höhepunkt ist der Favoritchor, der aus Studierenden der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf besteht. Insbesondere Julia Hagenmüller und Katharina Fulda zeigen schon mal, dass beim Nachwuchs großes Potenzial besteht. Der Favoritchor begeistert. –  Stessin liefert, was er im Vorfeld versprochen hat. Die Gegensätze werden so deutlich wie die Zusammenführung des Geschehens. Die räumliche Trennung der Instrumente führt zu grandiosen Effekten, und wenn die Organist Samuel Dobernecker zu einer Neuauflage von Psycho einlädt, steigt die Spannung. So etwas ist nur durch ein Übermaß an Engagement seitens der musikalischen Leiterin Susanne Hiekel zu schaffen, die sich mehr als tapfer an allen Fronten schlägt. Zur Seite steht ihr dabei die Camerata Instrumentale Kaiserswerth, ein neunköpfiges Orchester, das die Einfälle des Komponisten locker im Griff hat. Ralf Zartmann bedient üblicherweise das Schlagwerk bei den Düsseldorfer Symphonikern und hat dementsprechend wenig Opernerfahrung, was Neue Musik angeht, löst seine Aufgabe aber ganz famos.

Das Publikum ist trotz seiner Verständnisschwierigkeiten ergriffen. Sekundenlanges Schweigen würdigt die intensive Arbeit aller Akteure gleichermaßen wie der langanhaltende Applaus, der bei Solisten und Favoritchor noch etwas lauter aufbrandet. Eine packende Geschichte geht zu Ende und lässt Fragen offen. Das ist gewollt. Ein großer Abend geht noch nicht zu Ende. Michael S. Zerban

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O-Ton-in Exitibus

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